Florian Kessler

Was Literatur im Jahr 2018 verdammt nochmal alles darf. Zehn Thesen

  1. Literatur darf verdammt nochmal alles.
  1. Aber sie darf auch verdammt hart kritisiert werden, wenn sie mit dieser riesigen Freiheit schlecht umgeht.
  1. Solche Kritik ist wichtig für eine lebendige Kultur, in der Kunstwerke diskutiert und hinterfragt und nicht einfach nur abgefeiert werden.
  1. Wenig entgegengesetzte Meinungen und wenig grundsätzliche Kritik bedeuten nicht automatisch Zivilisiertheit der Leserschaft, sondern oft lediglich, dass ein Kunstwerk auf ein wenig widersprüchliches Publikum stößt. In einer Telefonzelle oder im Literaturbetrieb der nuller Jahre war es nur so schön ruhig, weil alle Anwesenden eh gleicher Meinung waren.
  1. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Jahr 2018 aber wird verstärkt von Leuten gemacht und gelesen, die nicht exakt den gleichen kulturellen Hintergrund, das gleiche Weltwissen und die gleichen Maßstäbe haben wie etwa ich und meine Peergroup aus der Eichhörnchengruppe im Kindergarten.
  1. Das ist selbstredend manchmal anstrengend, aber eben auch großartig. Und zwar nicht allein, weil dadurch mehr Menschen durch Literatur repräsentiert werden – sondern ebenso auch, weil deren unterschiedliche Anforderungen an Literatur die Auseinandersetzung um diese beleben.
  1. Und Literatur soll die Ansichten anderer ruhig beleben, verwirren und sogar verletzen – es wäre eine dumpfe, stillgelegte Literatur, wenn solches übergriffiges Verwirren der Verhältnisse nicht sogar eines der wichtigsten Ziele von Gegenwartsliteratur wäre.
  1. Wirklich gute Literatur sollte allerdings niemals so verdammt dumm sein, dass ihr die Verwirrung oder gar Verletzung anderer einfach nur unterläuft. Sie sollte im Wissen um mögliche Kritik an ihren Positionen darum ringen, zu welchem Zweck sie was wie zur Sprache bringt.
  1. Die gute Literatur dieser Jahre darf also wie zu Anfang der Überlegung bei These Nummer 1 alles – verdammt gut ist sie aber nur dann, wenn sie genau darüber nachdenkt, wozu sie ihre ungeheure Freiheit einsetzt.

  1. Je mehr wir über all das reden und streiten, desto reflektierter und besser machen wir Literatur.

Florian Kessler, 1981 in Heidelberg geboren, studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, arbeitete als freier Journalist und ist seit 2015 Lektor für deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Sachbuch beim Hanser Verlag. Er war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste und auch beim Literaturfestival Prosanova dabei.