Olivia Wenzel

Wenzel Style

  • ich habe seit kurzem einen kreis.

lese-kreis zu sagen, widerstrebt mir; das klingt muffig und nach club der toten dichter. außerdem besprechen wir auch musik, kunst, filme, serien, akademische theorien - dinge, die uns begeistern, anregen, über die wir gemeinsam nachdenken wollen. wir sind bisher fünf bis sieben personen aus unterschiedlichen disziplinen und in ähnlichem alter, treffen uns ca. einmal im monat. niemand in unserem kreis - bisher nenne leider nur ich uns geheimnistuerisch "DER KREIS" - ist weiß. das tut überraschend gut.

  • vor zwei jahren ging ich mal zu einer tankstelle, die meinem damaligen atelier im ddr-funkhaus gegenüber lag. ich wollte mir für die nächtliche arbeitspause einen snack kaufen. am nachtschalter starrte mich plötzlich ein tankwart intensiv durch die glasscheibe an, mit mahlendem unterkiefer und roten flecken am hals. er sagte, dass es die crunchips african style1, die ich haben wollte, hier nicht gäbe. ich sagte, dass ich die aber von draußen im regal liegen sähe, er presste hervor: "nein". der tankwart weigerte sich, mich zu bedienen, starrte mich immer weiter an, rote flecken mittlerweile auch im gesicht. plötzlich kam ein anderer weißer mann dazu, stellte sich neben mich und fragte, was los sei. daraufhin holte der tankwart wortlos die chips. ehe er sie durch den spalt des nachtschalters schob - er schaute mich jetzt gar nicht mehr an -, schrieb er mit einem edding eine "1" und eine "8" oben rechts auf die tüte. ein paar minuten später, zurück in meinem atelier, begriff ich, dass er die initialen von adolf hitler in altbekanntem nazicode auf meinen mitternachtssnack gemalt hatte.

  • solche sachen würde ich DEM KREIS nicht erzählen. wir alle haben grausame, absurde und lächerliche geschichten dieser art erlebt, erleben sie weiterhin, wahrscheinlich bis an unser lebensende. trotzdem (oder gerade deswegen?) haben wir lust, sie zu überwinden, weiter und tiefer zu denken, nicht permanent zurück, nicht permanent in den schmerz rein.

  • z.b. so: kürzlich habe ich das erste mal eine kitschige romcom gesehen, in der die protagonistin schwarz und es an keiner stelle ein thema war - toll. oder so: kürzlich bin ich durch eine freundin auf fotos von delphine diallo gestoßen und war ganz angetan. oder so: kürzlich habe ich angefangen, bell hooks' buch "all about love" zu lesen und es fühlte sich warm an. positiver input, meistens aus übersee, ist wichtig - für meine künstlerische und meine soziale praxis. humor hilft, netzwerke helfen, den arbeitsplatz von lichtenberg nach schöneberg zu verlegen, hilft. und in naher zukunft: mentorin sein, etwas weitergeben, zuhören.

  • trotz meinem wunsch, mich nicht ständig mit rassismus zu befassen (oder gerade deswegen?) tauchen im buch, an dem ich jetzt schreibe, zunehmend geschichten wie die vom hasserfüllten tankwart auf. letztens habe ich auf einer lesung ausschnitte daraus gelesen - allerdings nicht die story um die crunchips, sondern texte, in denen das äußere einer asiatischstämmigen figur beschrieben wurde. bei der vorbereitung der lesung stellte ich mir einmal vor, diese ausschnitte mit DEM KREIS zu besprechen. sofort veränderte sich mein blick auf die texte. ich ertappte zwei stellen beim unbedarften verwenden rassifizierender zuschreibungen, kürzte sie verschämt, formulierte um.

  • perfide: ein unsichtbarer lehrer hat mir jahrelang dinge eingetrichtert, die sich nur mit anstrengung greifen und wieder verlernen lassen. wenn ich schreibe, schreibt er schöpferisch mit. ich bin nicht davor gefeit, etwas zu reproduzieren (und damit zu repräsentieren), das ich unter keinen umständen repräsentieren will.

  • ein weißer freund warf einem meiner texte kürzlich ideologisch verblendete subjektivität vor. er kritisierte, dass ich die nazis eindimensional dargestellt hätte, ohne einfühlung. mein freund hat(te) recht. ich schreibe nah an meinen erfahrungen und den erfahrungen von leuten aus meinem umfeld. zur zeit sprechen meine texte in erster linie von und für menschen mit verwandten diskriminierungserfahrungen, menschen, die sich mit ähnlichen turbulenzen rings um ihre identitäten konfrontiert sehen - "meinesgleichen" also. klar bin ich da parteiisch, und klar will ich vielen, bisher vom mainstream ungehörten stimmen eine stimme geben und sein. gleichzeitig ist einiges von dem, was ich zu sagen habe, für nicht weiße menschen in deutschland ein alter hut. oder anders: geschichten wie die vom lichtenberger tankwart wollen vor allem eine erfahrung an jene vermitteln, die diese erfahrung nicht kennen. für wen schreibe ich das also tatsächlich auf, mit wem will ich kommunizieren?

  • wenn nicht weiße autor*innen von rassistischen und sexistischen erlebnissen auf lesereisen und in interviews berichten, wenn sie von unangenehmen labelungen zu pr-zwecken erzählen und vom gefühl, für die trendy diversifizierung des literaturbetriebs benutzt zu werden, könnte ich kotzen. um mich gegen solche situationen zu wappnen, brauche ich strategien. anderthalb jahre bevor mein buch erscheint, lange bevor es überhaupt geschrieben ist, befasse ich mich damit, schlachtpläne zu seiner und damit meiner verteidigung zu ersinnen. denn ich gehe - für den fall, dass es überhaupt einige leute interessiert - selbstverständlich von kommenden, unangemessen persönlichen angriffen, von rassistischen und vor allem unbewusst rassistischen kommentaren aus. das sagt nicht nur etwas über mich und meinen hang zur paranoia, sondern auch über den deutschen literaturbetrieb. der unsichtbare, perfide lehrer hat es dort in allen abteilungen sehr bequem. um ihn sichtbar zu machen und anschließend souverän aufs kleinstmögliche maß zu schrumpfen, muss ich bei mir anfangen. manche meiner internalisierten rassismen kann ich vielleicht allein oder mit DEM KREIS überwinden. manche meiner heiß ersehnten strategien kann ich vielleicht, hoffentlich, zusammen mit DEM KREIS entwickeln; vermutlich ist DER KREIS selbst schon eine strategie.

  • strategien sind nützlich. gleichzeitig muss ich akzeptieren lernen, dass ich wenig einfluss auf die rezeption meiner arbeit habe. und dass das nicht nur schlecht sein muss. vielleicht finden meine texte letztlich bei der weißen tochter eines lichtenberger nazis viel mehr anklang als bei der schwarzen schülerin, die gerade in augsburg abitur macht und sich energisch in der jungen union engagiert. was wäre dagegen einzuwenden?

  • fazit?

  • es gibt den grimmigen tankwart, der absichtlich ein nazi ist - das tut weh. es gibt immer mal wieder sowas wie meinen weißen mitbewohner, der beim frühstück sagt: "boah, mir fällt grad ein richtig rassistischer witz ein, den erzähl' ich dir aber lieber nicht, du hast dich da immer so." - das tut auch weh, aber anders. und es gibt leute im literaturbetrieb, die schon jetzt ns-vokabular fahrlässig benutzen, um über meine arbeit zu sprechen - richtig eklig. das erste beispiel, der tankwart, ist ein messerstich zwischen die rippen, die anderen beispiele ein paar zu feste nackenklatscher - harmlos anmutend, nicht böse gemeint, trotzdem ätzend. alle beispiele basieren auf einer alten idee: dem konzept von weißsein als universeller norm. schreibend versuche ich, die akzeptanz dieses konzepts in frage zu stellen.

  • wie ich das bewerkstellige, was das alles poetologisch für "meine" prosa bedeutet, finde ich im moment heraus. bisher habe ich überwiegend theaterstücke geschrieben und musik gemacht, komme also vom dialoge schreiben und vom intuitiven, mal melancholischen, mal albernen arbeiten mit sound. ich mag mehrstimmigkeit, montage, rhythmisierung und assoziative dramaturgien. ich mag es, mir und anderen fragen zu stellen, ins skurrile abzudriften, konkrete, mal roughe, mal banale realitäten in miniaturen zu erzählen. außerdem ta-nehisi coates. ende 2016 habe ich ihn zufällig kurz in new york getroffen, danach sein buch "between the world and me" gelesen. wie er darin reflektion, persönliches erleben und (kultur-)historisches wissen zu kluger, mich peinigender literatur vermengt, hat mich nachhaltig inspiriert.

1 wann bringt die firma lorenz wohl die "crunchips european style" auf den markt? und wonach werden sie schmecken?

Olivia Wenzel, 1985 in Weimar geboren, Studium der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Uni Hildesheim, lebt und arbeitet in Berlin. Wenzel schreibt Texte für die Bühne und Texte zum stillen Lesen, macht Musik als OTIS FOULIE und ist als Performerin aktiv - zuletzt im Stück "Die Erfindung der Gertraud Stock" mit dem Kollektiv vorschlag:hammer.

Wenzels Texte fürs Sprechtheater wurden u.a. an den Münchner Kammerspielen, am Hamburger Thalia Theater, am Deutschen Theater Berlin und am Ballhaus Naunynstrasse aufgeführt. Mit Prosatexten war sie u.a. zu Gast beim Internationalen Literaturfestival Berlin, im Literaturhaus Hamburg und beim letzten Prosanova Festival. 2017 war sie außerdem Teilnehmerin des Klagenfurter Literaturkurses beim Bachmannpreis und bei der Autorenwerkstatt des LCB.

Neben dem Schreiben gibt Wenzel Workshops, arbeitet in Textwerkstätten mit Kindern und Jugendlichen, und ist Teil des cobratheater.cobra Netzwerks. Ihr Debütroman erscheint 2019.